„Als ich nach einem Thema für mein Buch suchte, wurde mir schnell klar, dass ich über mein seltsames Wesen schreiben musste, über meine Sehnsucht nach einer Beziehung und das Streben nach Akzeptanz. Mir kam der Gedanke anderen Menschen, wenn auch sehr wenigen, könnte es genauso gehen wie mir, dass auch sie an der Suche nach Freundschaft und der großen Liebe verzweifeln. Mein Ansinnen war, ihnen Trost zu spenden und eine gedankliche Gemeinschaft entstehen zu lassen. Ich wollte anderen Mut machen, dass sie nicht die einzigen Menschen auf der Welt sind, denen so etwas widerfährt. Heute sehe ich das etwas anders, denn ich weiß ja inzwischen, dass ich ein Asperger-Autist bin. Jetzt verstehe ich, was damals mit mir passierte, und woran meine Suche immer wieder gescheitert ist."
Markus Schneider:
„Deine autistische Wahrnehmung wird in dem Buch besonders deutlich, wenn Du die Gefühle der Frauen, für die Du Dich interessiert, ganz falsch einschätzt. So deutest Du kurze, oberflächliche Kontakte zu ihnen als tief empfundene Sympathie oder gar schon als Liebe. Dadurch gerätst Du immer wieder in peinliche Situationen, die für Nicht-Autisten in der Regel deutlich erkennbar sind. Auffällig sind auch Deine detailreichen Beschreibungen der Umwelt und Menschen. Du beobachtest soziale Vorgänge und Verhaltensweisen und glaubst, Du müsstest sie genauso umsetzen. Dabei nimmst Du Persönlichkeitsunterschiede gar nicht wahr und manövrierst Dich in unangenehme Situationen. Auch eine gewisse Rigidität und Regelorientierung, durch die Du Dir die Welt erschließen möchtest, sind im Text erkennbar. Und nicht zuletzt die Offenheit bis hin zur Schonungslosigkeit der Beschreibung sehr vertraulicher und intimer Handlungen und Gedanken sind recht häufig bei Autismus vorhanden."
Reinhard Müller:
„Das hast Du richtig erkannt. So ist es eben, mein aspergisches Wesen. Seitdem ich auf der Welt bin, fehlen mir Kontakte und Freundschaften, auch zu männlichen Personen. Mittlerweile ist mir bewusst geworden, dass ich damals keine Freundin fand, weil ich die Blicke anderer Menschen nicht deuten konnte. Das kann ich heute zwar immer noch nicht, aber in die Augen schauen – diese Show kann ich jetzt abziehen! Das habe ich mir angewöhnt, weil ich gelernt habe, dass mein Gegenüber es von mir erwartet."
Fühlten Sie sich damals oft einsam?
Reinhard Müller:
„Ja, ich ging allein ins Kino, saß allein an der Bushaltestelle, war im Prinzip immer, immer, immer allein. Dabei wuchs ich mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester auf. Doch besonders sonntags schmerzte mich die Einsamkeit sehr. Ich dachte, ich sei der einzige Mensch auf der Welt, der keine Freunde und erst recht keine Freundin findet. Ich vermutete, dass das vielleicht an meiner seltsamen Mimik und Motorik läge und habe versucht, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Irgendwie hat mein Gehirn mir das quasi verboten."
Markus Schneider:
„Da geht es Dir wie vielen unserer Klienten mit einer Asperger-Diagnose. Sie haben schlechte Erfahrungen gemacht und wenden sich lieber von anderen ab. Dabei wünschen sie sich Kontakte und Freundschaften, sie schaffen es nur nicht, diese sozialen Beziehungen herzustellen. Zudem empfinden sie neurotypische Menschen oftmals als unehrlicher und nicht so verlässlich wie Autisten. Daher entscheiden sie sich, lieber nichts mit ihnen zu tun haben zu wollen. Im Gegensatz zu Deiner damaligen Situation haben sie ihre Autismus-Diagnose aber bereits erhalten und somit ein Erklärungsmodell, das allerdings nicht immer komplett greift. Denn es gibt noch viele zwischenmenschliche Situationen, die ein Autist nicht einordnen kann. Bei diesem Transfer unterstützen unsere Mitarbeiter die Klienten, ihre Angehörigen und auch weitere Bezugspersonen aus ihrem sozialen und institutionellen Umfeld. Schritt für Schritt bringen sie ihnen typische Mechanismen nahe, sie fungieren sozusagen als soziale Dolmetscher."
Wie war das bei Ihnen?
Reinhard Müller:
„Vor der Diagnose dachte ich, ich bin komisch, so ist das eben. Ich musste mich selbst auch ein wenig trösten und habe immer wieder versucht, mein Verhalten zu korrigieren, vor allem durch vermeintlich tollen Humor. In der Schule habe ich zum Beispiel ständig den Klassenclown gespielt, das konnte ich gut, das kann ich heute noch. Im Gegensatz zu anderen Autisten war es für mich auch kein Problem, vor vielen Menschen einen Vortrag zu halten oder auf der Bühne zu stehen. Vermutlich habe ich das nur gemacht, um endlich positiv gesehen zu werden und nicht nur als komischer, einsamer Kerl. Ich wollte einfach mal ein Lob erhalten."
Markus Schneider:
„Die Anerkennung hast Du später in Deinem Leben ja auch bekommen. Ich erinnere mich, dass Du mir erzählt hast, wie viele wertschätzende Briefe Du während Deiner Zeit als Lehrer von den Eltern erhalten hast."
Reinhard Müller:
„Ja, das stimmt. Sie haben mir geschrieben, ich sei der beste Lehrer, den man sich wünschen kann. Auch die Kinder mochten mich gerne. Vermutlich lag das daran, dass ich auf eine altmodische Art und Weise streng mit ihnen war – streng und sehr lieb in einem. Ich muss ein wenig schmunzeln, wenn ich daran denke, warum ich ursprünglich auf Lehramt studiert habe. Hauptsächlich, weil es in diesem Studiengang so viele wunderschöne Frauen gab. Ich lüge nicht! Nach meinem Abschluss habe ich allerdings gar nicht als Lehrer gearbeitet. Ich habe noch Musik studiert und viele Jahre als Geiger in einem Symphonieorchester musiziert – bis mir das zu langweilig wurde, der Job hat mich gedanklich nicht genug gefordert. Nach einem weiteren, erfolgreich abgeschlossenen Studium habe ich in einer Stahlfirma als Informatiker gearbeitet. Erst als diese Konkurs angemeldet hat, fing ich als Lehrer in einer Grundschule an. Zu diesem Zeitpunkt lag mein Studium schon lange zurück, ich musste mir die Kenntnisse ganz neu und zum großen Teil autodidaktisch aneignen. Aber ich war in meinem Element. Als Lehrer schaffte ich es endlich, mehr aus mir rauszugehen, das war ein tolles Gefühl."
Und dann erhielten Sie die Diagnose Epilepsie...
Reinhard Müller:
„Mit etwa Mitte fünfzig sackte ich plötzlich einmal völlig zusammen und lag wie tot auf dem Boden. Im Krankenhaus konnte man nichts feststellen, ich wurde nach einigen Tagen wieder entlassen. Jahre später fuhr ich auf der Autobahn A4, als mir plötzlich ganz komisch im Kopf zumute wurde, und ich nicht mehr scharf sehen konnte. Ich fuhr erst gegen die rechte Leitplanke, danach über alle drei Spuren in die Mittelplanke. Mein ganzes Leben zog plötzlich an mir vorbei. Ich spürte einen merkwürdigen, einen bestimmten Geruch, der mir seltsamerweise bekannt vorkam."
Markus Schneider:
„Diese Szene beschreibst Du im Epilog Deines Romans so detailliert und bildlich, dass ich beim Lesen eine Gänsehaut bekommen habe."
Reinhard Müller:
„Erst als der Anfall zu Ende war, konnte ich mich wieder an alles erinnern. Mein Auto hatte einen Totalschaden, bei mir stellten die Ärzte Epilepsie fest, ansonsten war ich absolut unverletzt. Mein Umfeld war erstaunt, wie ich mit dieser Diagnose umging. Ich meinte bisweilen ein wenig lustig: Wenn ich Epilepsie habe, dann habe ich sie eben – wie unwichtig das doch ist! Meine berufliche Karriere habe ich danach beendet. Und die Epilepsie besiegt, denn der Herd lag nur an einer bestimmten Stelle im Gehirn und konnte glücklicherweise operativ entfernt werden."
Zum Zeitpunkt des Unfalls stand die Scheidung von Ihrer ersten Frau an...
Reinhard Müller:
„Ja, irgendwann ist also doch eine Frau in mein Leben getreten. Ich hatte sie an der Musikschule kennengelernt, wir saßen zufällig nebeneinander. In meinem Roman wird sie aber nicht erwähnt. Über 20 Jahre waren wir verheiratet und – meiner Meinung nach – auch lange Zeit glücklich miteinander. Wir haben zwei Kinder zusammen, einen Sohn und eine Tochter. Doch trotz Ehe und Familie habe ich mich immer noch irgendwie alleinig auf der Welt empfunden. Das komische, unbeschreibliche Gefühl war noch da. Offensichtlich war ich seltsam, das hatte sich auch in der Ehe nicht geändert. Am Wochenende bin ich oftmals einen ganzen Tag mit dem Rad alleine unterwegs gewesen, einmal sogar 220 Kilometer an einem Stück! Ich war sehr stolz auf diese sportliche Leistung, aber es hat mich keiner dafür gelobt."
Und wie haben Sie Ihre jetzige Frau kennengelernt?
Reinhard Müller:
„Übers Internet, Elke und ich haben uns lange geschrieben, bevor wir uns das erste Mal an einem Bahnhof getroffen haben. Ich habe mich hinter einem Pfeiler versteckt, weil ich sie ein wenig überraschen wollte. Plötzlich bin ich hervorgesprungen und habe „Hallo“ gerufen. Da kam wieder einmal der Clown in mir zum Vorschein. Aber jetzt sind wir schon fast 20 Jahre beieinander."
Findet Ihre Frau, dass Sie sich seltsam verhalten?
Reinhard Müller:
„Natürlich, sie kennt meine Macken und hat mich so angenommen, wie ich nun mal bin. Vor meiner Autismus-Diagnose war es schwierig für sie zu verstehen, warum ich so gerne alleine da sitze, jeden Teller und jede Gabel direkt nach dem Essen mit der Hand abwasche, obwohl wir eine Spülmaschine haben, mich laute Geräusche wahnsinnig machen und es mir schwer fällt, zu telefonieren. Es verunsichert mich, dass ich vorher nie einschätzen kann, was mein Gegenüber bei dem Gespräch wohl sagen wird. Ich habe Angst, dass der andere mich am Telefon herabwürdigen könnte, dass er Kritik an dem Gesagten übt."
Markus Schneider:
„Das geht vielen Autisten so. Es besteht der Wunsch, sogar der Drang, dass das Telefonat perfekt sein muss. Die Angst vor dem Nicht-Perfekten ist so groß, weil sie befürchten, es könnte zu einer Ablehnung kommen. Reinhard, ich habe Dir ja schon mehrmals gesagt, dass das nicht passieren wird, wenn Du mit mir telefonierst."
Reinhard Müller:
„Ich weiß, aber selbst diese Vergewisserung nimmt mir nicht die Angst vor Ablehnung und Kritik."
Wann haben Sie Ihre Autismus-Diagnose erhalten?
Reinhard Müller:
„Die Diagnose haben wir einem glücklichen Zufall zu verdanken. Meine Frau hat einen Fernsehfilm geguckt, der sie darauf brachte, ich könnte womöglich ein sogenanntes Asperger-Syndrom haben. Nach dem Beitrag kam sie zu mir und sagte: „Reinhard, das bist Du, genauso bist Du! Deine Detailverliebtheit und Geräuschempfindlichkeit, Deine Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen, das passt alles wie die Faust aufs Auge.“ Danach habe ich sofort im Internet eigene Nachforschungen angestellt. Der Eindruck, dass ich ein Autist bin, dass dies wohl mein Wesen ist und es mein ganzes Leben lang schon so war, wurde immer stärker."
Markus Schneider:
„Umso spannender, dass Du nur wenige Wochen vor diesem Fernsehbeitrag einen ganzen Monat lang in einer Klinik warst, weil Du, wie Du selber sagst, Deinem seltsamen Wesen einmal auf den Grund gehen wolltest."
Reinhard Müller:
„Genau, ich hatte die Idee, mich professionell begutachten zu lassen, weil mir das vielleicht rechtliche oder steuerliche Vorteile bringen könnte. Aber die Untersuchungen habe zu keiner Autismus-Diagnose geführt, obwohl eine Therapeutin die Vermutung zumindest einmal ganz kurz ausgesprochen hatte. Nach der Fernsehsendung bin ich in der Klinik erneut vorstellig geworden. Dieses Mal blieb ich zwei Tage dort, nahm an diversen Tests teil und musste geduldig tausend Fragen ankreuzen. Danach hatte mein seltsames Wesen endlich den Namen Asperger-Syndrom erhalten! Die Erleichterung bei mir und meiner Frau war unbeschreiblich groß. Die behandelnde Ärztin hat sich bei mir und Elke entschuldigt, dass sie es nicht schon beim ersten Aufenthalt erkannt hat."
Verhalten Sie sich seit der Diagnose anders?
Reinhard Müller:
„Nein, ich versuche nur zu akzeptieren, dass ich kompliziert bin. Auch im Zusammenleben mit meiner Frau hat sich nicht viel geändert. Sie hat jetzt mehr Verständnis für mein komisches Verhalten, da sie weiß, woher es kommt. Und sie wundert sich nicht mehr, wenn ich mich zurückziehe und alleine sein möchte. Mein Wesen ähnelt wohl dem meiner Mutter, die von meiner Großmutter auch oftmals stark beleidigt wurde. In Situationen, die es erfordert hätten, hat sie sich auch nie gewehrt und stand wie versteinert da. So war und ist es ja bei mir auch. Als Kind hatte mich mal jemand geohrfeigt, da wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte und bin ebenfalls stocksteif stehen geblieben."
Markus Schneider:
„Eine gewisse Disposition wird von den Eltern weitergegeben, das ist erwiesen, aber Autismus ist keine Erbkrankheit. Wenn ein Paar ein Kind bekommt, und beide sind Autisten, bedeutet das nicht automatisch, dass das Kind auch Autismus hat, nur die Wahrscheinlichkeit ist höher."
Wie geht es weiter in Ihrem Leben?
Reinhard Müller:
„Ich bin froh, dass ich die Diagnose habe, alles andere kann und muss wohl so bleiben wie es ist. Die Menschen müssen mich so akzeptieren wie ich bin, darauf habe ich wenig Einfluss. Ich weiß, dass meine Fähigkeiten, mich an bestimmte Erwartungen anzupassen, allmählich am Ende sind. Und es stimmt mich immer noch traurig, dass es mir so schwer fällt, Kontakte aufzubauen. Es ist ein stetiger Kampf, eine Diskrepanz, zwischen allein sein und Freundschaften knüpfen wollen, zwischen Ruhe, Einsamkeit und Rückzug und dem Wunsch nach einem reibungslosen sozialen Leben. Ich schätze, das bleibt so, ich muss es annehmen, denn ich habe keine Lust bis zum Friedhof darüber zu reden und zu trauern."
Markus Schneider:
„Einer der Gründe, weswegen ich Dein Buch so faszinierend finde, ist, dass die meisten Autisten über ihre Beeinträchtigung schreiben, nachdem sie ihre Diagnose bekommen haben. Du hast Deinen Roman ganz unvoreingenommen geschrieben – ohne Bezug zum Asperger-Syndrom und ohne das Wissen über diese tiefgreifende Entwicklungsstörung. Deine Worte sind nicht in ein bestimmtes Raster gepresst. Stil, Inhalt und Thema unterscheiden sich von anderen Autobiografien. Schließlich schreibst Du sehr offen und erfrischend über Deine gescheiterte Suche nach Frauen, über Beziehungen, Liebe, Selbstliebe und Sexualität. Allein das ist in der Öffentlichkeit ein Widerspruch an sich, weil Autisten oft als beziehungsunfähig und emotionslos dargestellt werden – ein starker Stereotyp, der die Betroffenen sehr verletzt. „Peinliche Sehnsucht - Geständnisse des Autisten Victor“ ist für mich eine gute Ergänzung zur gängigen Autismus-Literatur. Mit Deinem Buch hast Du eine überaus intensive und kreative Arbeit geleistet und, so sehe ich es, auch eine Form von Selbsttherapie betrieben."
Reinhard Müller:
„Ich danke Dir für Deine lieben Worte! Ja, das Schreiben hat mir beim Verstehen geholfen. Mich aber auch manchmal an meine Grenzen gebracht. Die Konfrontation mit vergangenen Verletzungen war nicht einfach. Aus meiner Lebens- und Leidensgeschichte ist ein autobiografischer Roman entstanden, der auf wahren Begebenheiten und persönlichen Erfahrungen beruht. Ich bin dankbar, dass ich mein Wissen über Autismus in dieser Form weitergeben kann. Im Autismus-Therapie-Zentrum in Gütersloh war ich ja auch schon bei einem Infoabend dabei und habe Eltern geholfen, das Verhalten ihrer autistischen Kinder besser zu verstehen. Das hat mir sehr viel Freude gemacht."
Markus Schneider:
„Es wäre toll, wenn Du autismus OWL weiterhin bei solchen Veranstaltungen unterstützen könntest und auch mal aus Deinem Buch vorliest. Mit der Darstellung Deines Werdegangs und gesamten Lebens kannst Du viele Angehörige und auch Autisten selber inspirieren, auf ihre Fähigkeiten zu vertrauen und ihre Ziele konsequent zu verfolgen. Du bist ein Beispiel dafür, was man trotz Einschränkungen durch den Autismus erreichen kann und wie man ein erfüllendes Leben führt. Der Verein und ich freuen sich auf weitere Projekte mit Dir und darauf, dass die aufgrund der Corona-Pandemie verschobene Lesung bald stattfinden kann."