
"Stabilität bieten und Mut machen hilft unseren Klienten durch diese schwierige Zeit"
Heute ist Welt-Autismus-Tag und der Regionalverband autismus Ostwestfalen-Lippe e.V. hätte gerne viele Besucher an seinem neuen Infostand begrüßt. Leider ist das aufgrund der aktuellen Kontaktbeschränkungen nicht möglich. Die Corona-Pandemie stellt den Verein, seine Mitarbeiter und Klienten sowie ihre Familien immer noch vor viele Herausforderungen. „Entscheidend ist jedoch, dass wir Menschen mit Autismus in dieser schwierigen Zeit weiterhin mit unseren vielfältigen Angeboten unterstützen und uns für ihre Belange einsetzen können. Darüber hinaus sind wir froh, dass unsere Mitarbeiter zum Teil schon ihre erste Impfung gegen das Corona-Virus erhalten haben“, so Christoph Leßmann, Vorstandsvorsitzender des Vereins.
Aus dem Autismus-Therapie-Zentrum in Gütersloh berichtet Bereichsleitung Melanie Esken, wie schwer es den Menschen aus dem Autismus-Spektrum fällt, mit den Kontaktbeschränkungen umzugehen: „Wir sind ein offenes Haus, in dem sich Klienten, ihre Familien und andere Besucher gerne zum Kaffee treffen und auch zusammen kochen. Der Austausch unter Gleichgesinnten fehlt allen sehr. Normalerweise besuchen sich die Kinder gegenseitig in den Therapieräumen, außer der rote „Stopp-Button“ hält sie davon ab. Sie leiden unter der derzeitigen Situation, es ist nicht leicht, das mitzuerleben.“
Ein wichtiger Bestandteil der Therapie ist das Einmaleins für Kontakte: Vom Blickkontakt über die Begrüßung bis hin zum Händeschütteln, diese Abläufe werden immer wieder geübt. „Das können wir momentan nicht umsetzen und bringt uns in Konflikt mit unseren Förderschwerpunkten“, erklärt Melanie Esken. Alternative Wege mussten gefunden werden: Video-Telefonie, Online-Gruppentreffen, Begegnungen im Garten oder Park ermöglichen, dass die Kommunikation aufrechterhalten werden kann. Melanie Esken: „Dank einer Spende der Aktion Lichtblicke e.V. konnten wir Klettergerüst, Schaukeln und vieles mehr anschaffen. Wir können es kaum erwarten, unser neues Spielparadies hinterm Haus aufzubauen.“
Auch im Autismus-Therapie-Zentrum Paderborn findet die Therapiegruppe für Klienten im Alter von 12-17 Jahren mit der Diagnose Asperger-Syndrom online statt. „In Präsenz sind momentan nur Zweiergruppen erlaubt, wenn das oberste Ziel bei diesen Treffen die Förderung der sozialen Kommunikation ist. Das ist bei unseren Klienten aus dem Autismus-Spektrum ja der Fall“, erläutert Bereichsleitung Kirsten Webrink. Sie und ihr Therapeuten-Team mussten lernen, ihre Mimik wegen der Maske anzupassen, mehr mit den Augen und über die Stirn zu kommunizieren. „Wir Nicht-Autisten haben in dieser Zeit von unseren Klienten viel gelernt über das nicht Deuten können des Gesichtsausdrucks. Dadurch konnten wir selber erfahren, wie schwierig es ist zu verstehen, was unser Gegenüber eigentlich von uns will“, beschreibt sie diese Perspektivübernahme.
Familien mit autistischen Kindern stehen noch vor ganz anderen Herausforderungen. Oftmals fühlen sie sich mit dem Hausunterricht überfordert, sind gleichzeitig Lehrkraft und Spielpartner und müssen in der Regel neben ihrem eigenen Job noch den Alltag mit Einkaufen, Kochen und Haushalt bewältigen. Die Autismusspezifische Sozial- und Heilpädagogische Familienhilfe, kurz A+SPFH genannt und seit August letzten Jahres ein neues Angebot des Vereins, bietet hier Entlastung und unterstützt etwa beim Strukturieren neuer Tagesabläufe, Erziehungsaufgaben, Bewältigen von Alltagsproblemen und Lösen von Konflikten: „Von der ganzen Familie wird derzeit eine enorme Flexibilität verlangt, die Menschen aus dem Autismus-Spektrum oder mit anderen Beeinträchtigungen nicht erfüllen können. Wir besprechen mit ihnen zum Beispiel, wie wichtig es ist, sich nach dem Aufstehen auch fürs Home-Schooling passend anzuziehen, klären mit ihnen, wer für das Überprüfen der Hausaufgaben verantwortlich ist und wie sie das Hin und Her zwischen Präsenz- und Online-Unterricht besser vorbereiten und steuern können“, erläutert Manuela Böttcher-Buiwitt, Leitung der Familienhilfe in Bielefeld.
Entscheidend ist, den Familien Sicherheit zu vermitteln. Denn für Menschen aus dem Autismus-Spektrum ist es besonders wichtig, Rituale und Strukturen beizubehalten. Manuela Böttcher-Buiwitt: „Es hilft ihnen, wenn ich sage, dass es einer anderen Familie genauso geht wie ihnen. Das macht Mut und gibt das Gefühl, mit seinen Problemen nicht alleine dazustehen.“ Das kann auch Kathrin Weniger, Fachliche Leitung beim Ambulant Betreuten Wohnen, bestätigen: „Da unsere monatlichen Gruppentreffen durch Corona weggebrochen sind, führen wir viele Gespräche und bieten Aktivitäten an, die im Einzelkontakt stattfinden können. Das ist zwar kein Ersatz für den Austausch und Spaß mit Gleichgesinnten, vermittelt unseren Klienten aber ein Gefühl von Stabilität.“
Da der Schulunterricht noch nicht wieder in gewohnter Form stattfindet, begleiten auch die Mitarbeiter des Familienunterstützenden Regionalen Integrations-Assistenzdienstes für Menschen mit Autismus (FRIDA) ihre Klienten momentan verstärkt im häuslichen Umfeld. Sie gehen in die Familien, um die Beziehung zu ihnen und ihren Kindern aufrechtzuhalten. Autisten haben Schwierigkeiten mit Veränderungen, sie verlassen sich auf ihre Routinen. „Plötzlich steht dann die ihnen vertraute Person, die sie sonst nur in der Schule begleitet, bei ihnen Zuhause im Wohnzimmer. Das ist Stress pur und für Menschen aus dem Autismus-Spektrum nur schwer zu akzeptieren“, so Maren Bohr, Fachliche Leitung FRIDA Gütersloh. Hier ist es Aufgabe der Integrationsfachkraft, die neue Beziehung zu erklären und Ruhe in die Situation zu bringen.
Wie an allen Welt-Autismus-Tagen gilt es auch in diesem Jahr auf die Ressourcen von Menschen mit Autismus aufmerksam zu machen und nicht nur ihre Defizite zu sehen, mit ihnen zu reden und nicht nur über sie. Das sind die Leitmotive, die die tägliche Arbeit des Vereins prägen. „Für unsere Klienten ist es wichtig, von der Gesellschaft gesehen und mit all ihren Bedürfnissen wahrgenommen zu werden – nicht nur an diesem 2. April, sondern an jedem einzelnen Tag des Jahres“, betont Vorstandsvorsitzender Christoph Leßmann.
Welt-Autismus-Tag
Die Vereinten Nationen (UNO) haben diesen Aktionstag am 18. Dezember 2007 beschlossen und 2008 erstmals veranstaltet. Er ist auch als Welttag der Aufklärung über Autismus bekannt.